
Entscheidung: “Ich kann die Beraterschnösel nicht mehr sehen“
Jan ist Abteilungsleiter in einem etablierten Zulieferer-Betrieb für die Autoindustrie. Er hat in den letzten Jahren bereits zwei Eigentümerwechsel erlebt. Beide Male mit neuem Geschäftsführer und zugehörigen Beratern. Nach deren Schnellanalyse kam es jeweils zu einem „Downsizing“ um 10% der Mitarbeiter. Dazu wurden jeweils die Abläufe umstrukturiert und neue „Visionen“ verkündet. Die unausgesprochene Botschaft an die Mitarbeiter war dabei klar: „Ihr seid zu träge, zu wenig flexibel, euch müsste man eigentlich alle entlassen; jetzt herrscht hier Gott sei Dank ein frischer Wind!“ Die Mitarbeiter in Jans Abteilung sind frustriert. Sie sind kompetente, erfahre Mitarbeiter, die den Betrieb über die Jahre hin mitgestaltet und getragen haben. Von den „Beraterschnöseln“ (Originalton) fühlen sie sich herabgewürdigt. Jan spürt, dass sein gut funktionierendes Team immer weiter auseinander fällt. Die Mitarbeiter ziehen nicht mehr mit. Zwei Leistungsträger sind bereits gegangen.
Jan steht vor der Entscheidung, ob er auch gehen soll.
Die Entscheidung wird ganz akut, als die Firma wieder mit Gewinn an einen neuen Investor verkauft worden ist. Auf dem Hof sieht er schon den neuen Chef mit seiner Mannschaft anrücken, dieses Mal nicht mit Aktenkoffern, sondern selbstverständlich mit einem Rucksack der Marke „Incase“ (wie Anshu Jain von der Deutschen Bank ihn hoffähig gemacht hat). Unwillkürlich sucht Jan nach der Adresse des Headhunters, der ihm schon mehrfach interessante Angebote präsentiert hat…
Entscheidung, auf die Analyse von Problemen zu verzichten
In der Absicht, Verbesserungen einzuführen und Veränderungen in die Wege zu leiten, werden die Nebenwirkungen zu wenig beachtet. Wichtige Mitarbeiter werden demotiviert und erleben sich plötzlich als minderwertig. Statt Energien freizusetzen, lähmen die guten Excel-Sheets und die anschaulichen Power-Point-Darstellungen. „Was Ihr bisher gemacht habt ist schlecht/insuffizient/ nicht dynamisch genug“ – so lautet der Sub-Text, der bei den Mitarbeitern ankommt. Während die griffigen Slogans über die neue Strategie an die Wand geworfen werden, fühlen sich die Mitarbeiter massiv vor den Kopf gestoßen.
Dieses Mal ist es ganz anders
Jan weiß schon was kommt, als er von der neuen Geschäftsführung zu einem Führungskräfte-Meeting geladen wird. Zunächst ist er erstaunt darüber, dass es keine Riege von Beratern gibt, keine Möglichkeit für Power-Point-Präsentationen mit den Ergebnissen der Problemanalysen. Stattdessen stellen sich die Kollegen in kleinen Gruppen an Stehtischen zusammen. In der Mitte des Raumes steht der Prototyp der Maschine, mit der der Erfolg der Firma nach dem Krieg angefangen hat. Jan fragt sich, wo die Geschäftsführung das in der kurzen Zeit ausgegraben hat. Auf den Tischen liegen Zettel mit zwei Fragen, über die in den Gruppen am Tisch erzählt werden soll:
Erzählen Sie sich von Ihrer Anfangszeit in unserer Organisation. Wann kamen Sie zu uns? Was hat Sie zu uns hingezogen? Was waren Ihre ersten Eindrücke und was hat Sie begeistert, als Sie zu uns kamen?
Bitte erinnern Sie sich an einen Zeitraum, der für Sie ein echter Höhepunkt war. Eine Zeit, in der Sie besonders begeistert waren, sich wohl und lebendig fühlten, in der Sie sich vielleicht besonders gut einbringen und etwas in unserer Organisation bewirken konnten.
Was ist da geschehen? Wer war dabei? Was ermöglichte dieses Erlebnis? Was können wir daraus lernen?
Nach anfänglichen Irritationen kommt es zu einem regen Austausch an den Tischen – sporadisch wird sogar gelacht… Nach den Gesprächen werden die Erfolge zusammengetragen und vorgestellt. Es wird untersucht, unter welchen Rahmenbedingungen sie entstanden sind und wie man diese Bedingungen weiter ausbauen kann.
Nachdem Jan aus dem Meeting in sein Büro zurückgekehrt ist, greift er zuerst zu Hörer und sagt seinen vereinbarten Termin mit dem Headhunter wieder ab. Er hat zum ersten Mal seit Jahren das Gefühl, dass es mit dem Team und der Firma wieder aufwärts gehen könnte…
Was ist passiert?
Jan hat den Start einer Organisationsentwicklung erlebt, die am Anfang konsequent auf eine Problemanalyse verzichtet. Auf dieser Idee basiert Appreciative Inquiry (AI), zu Deutsch etwa „wertschätzende Erkundung“. Die von David Cooperrider 1987 entwickelte Methode richtet den Fokus ausschließlich auf das Positive, das in einem Team/einem Unternehmen bereits vorhanden ist. Im Gegensatz zu traditionellen Verfahren der Organisationsentwicklung, die einseitig von der Analyse von Problemen ausgehen, wird hier die Organisation nicht als defizitäres System betrachtet. Ganz im Gegenteil gibt es überall Positives und Erfolgreiches zu entdecken. Durch diesen Fokus entsteht eine wertschätzende Atmosphäre, wird der Aufbau von Abwehrroutinen vermieden und entsteht ein positives Innovationsklima. Nachfolgend eine Übersicht über die Struktur eines AI:
Phase 1: Discovery – Das ist bereits vorhanden Die Entdeckungsphase läuft in Form von Interviews ab, bei denen sich zwei oder drei Teilnehmer gegenseitig befragen. Die Mitarbeiter rufen sich herausragende Momente in Erinnerung und erleben sie so erneut. Die Ergebnisse werden gesammelt und präsentiert. Phase 2: Dream – Das könnte sein Im zweiten Teil versetzen sich die Teilnehmer in die Zukunft: Was wäre, wenn alles perfekt liefe? Es können Wünsche vortragen und Visionen entworfen werden, wohin sich einzelne Projekte, Abteilungen oder auch das ganze Unternehmen entwickeln soll. Phase 3: Design – Das soll sein In der Design-Phase wandeln die Teilnehmer die zusammengetragenen „Träume“ in klare Zukunftsaussagen um. Es werden Vorgehensweisen und Schwerpunktziele für bestimmte Themen, wie Kundenservice oder Arbeitsabläufe, festgelegt. Phase 4: Destiny – Das wird sein Bei der letzten Phase geht es um konkrete Maßnahmenplanung: Wie setzen die einzelnen Teams und Abteilungen die Ziele und Vorgehensweisen um. (Quellen: Info Artikel im Fokus , Artikel Uni Kassel , Artikel Matthias zur Bonsen )
Jan hat die erste Phase erlebt. Führungskräfte-Meetings zu den weiteren Phasen sind verbindlich terminiert worden. Eine oft praktizierte Alternative dazu ist die Durchführung der vier Phasen in einem kompakten Workshop, einer Appreciative-Inquiry-Konferenz .
Entscheidend ist und bleibt dabei:
„Konventionelle Methoden der Veränderung sind oft defizit-orientiert. Da werden zuerst die Mängel, die die Organisation hat, ausgiebig untersucht. Und das hat leider zur Folge, dass die Beteiligten sich eher geschwächt als gestärkt fühlen. Wer mit der Analyse der Mängel beginnt, untergräbt allzu leicht das eigene Selbstvertrauen. AI dagegen will vor allem das Potenzial bewusst machen, das in Menschen und Organisationen steckt. Ein Potenzial, das im Grunde unermesslich groß ist. Und das wichtigste Werkzeug dazu ist das AI-Interview. Mit ihm werden die “magic moments“ der Organisation untersucht. Kürzere oder längere Momente und Orte, wo etwas in der Organisation gut oder sogar phantastisch war und aus denen sich etwas für die Zukunft lernen lässt. Denn wie schlecht ein Team oder eine Organisation auch immer sein mag, immer gibt es darin etwas, das funktioniert. Immer gibt es darin “Juwelen“, die darauf hinweisen, was eigentlich aus der Organisation werden könnte.“ (Matthias zur Bonsen)
Ist es Ihnen als Führungskraft oder als Mitarbeiter ähnlich ergangen? Welche Entscheidungen haben Sie gtroffen?
Super Artikel, vielen herzlichen Dank dafür. Ich selbst arbeite so und habe damit viele Erfolge erzielt. In meiner letzten Firma, ging man den anderen Weg und jetzt verstehe ich auch, warum ich irgendwann keine Lust mehr hatte, dort weiterhin zu arbeiten.
Ein schönes Wochenende
Doro
Sehr geehrte Doro,
vielen Dank für die aufmunternde Reaktion. Ich habe lange überlegt, ob ich einen solchen Blog-Artikel schreiben soll, der sich mit einer sehr speziellen beruflichen Situation beschäftigt. Offensichtlich ist die Entscheidungssituation aber doch nicht so speziell.