
Im letzten Beitrag habe ich die Therapie der Psychoanalyse vorgestellt. Dabei werden häufige Sitzungen über einen längeren Zeitraum benötigt. Die Kurzzeittherapie kommt dagegen in der Regel mit 2-3 Sitzungen aus. Sie steht also, was die Dauer betrifft, am anderen Ende des Spektrums.
Grundannahmen der Kurzzeittherapie
Diese von Steve deShazer begründete Therapieform versucht nicht, ein vertiefteres Verständnis für die vom Ratsuchenden genannten Probleme zu gewinnen. Denn Problemanalyse führt in der Regel zu einer Vertiefung des Problems. Es entsteht leicht eine „Problemtrance“: Die Probleme werden immer größer und schwieriger, je intensiver sie analysiert werden. Stattdessen wird eine „Lösungstrance“ angestrebt, bei der es ausschließlich darum geht, sich mit den Lösungen zu beschäftigen. „Um Lösungen zu finden, braucht man das Problem nicht.“ Es geht um ein verändertes Tun, möglicherweise nur in kleinen Schritten. Wie alle systemischen Ansätze geht auch die Kurzeittherapie davon aus, dass selbst kleine Änderungen im (Gedanken-) System entscheidende Veränderungen bewirken können.
Die zentralen Fragen lauten: „Wie ist es, wenn es besser ist/war“, statt „warum war es so schlecht“. Also finde heraus, was gut (oder auch nur etwas besser) funktioniert – und tu mehr davon. Und wenn etwas trotz vieler Versuche nicht gut genug funktioniert – dann höre damit auf und versuche etwas anderes. Darin besteht der „Dreh“ (Titel des grundlegenden Buches von Steve de Shazer): Der Dreh. Überraschende Wendungen und Lösungen in der Kurzzeittherapie.
Das Vorgehen
In der Kurzzeittherapie gibt es einige Standardverfahren, in denen der „Dreh“ deutlich wird:
1. Frage nach den Ausnahmen
„Hat es Situationen gegeben, in denen das Problem nicht da war, oder vielleicht in geringerer Form?“
„Was dann anders?“
„Was können Sie davon mehr machen?“
Mit diesem Ansatz wird der Fokus auf die Lösung gelegt. Was war gut? Wie kann man mehr davon erleben?
2. Die Wunderfrage
(vgl. dazu auch meinen Artikel: Eigene Entscheidungen – oder was will ich wirklich?
„Stellen Sie sich vor, heute Nacht geschieht ein Wunder, und das Problem, über das wir gerade sprechen, ist gelöst! Was ist dann anders? Wer würde es zuerst merken?“
Mit dieser Frage wird das Ziel deutlich, das der Ratsuchende anstrebt. Der erwünschte Zustand der „Verbesserung“ wird innerlich vorgestellt und „erlebt“. Energie wird freigesetzt, um Schritte auf das Ziel hin anzugehen.
3. Beobachtungs-Aufgaben
In der Regel erhält der Ratsuchende (Beobachtungs-) Aufgabe(n). Einige Beispiele sind:
Vertrauen in das eigene Handeln stärken: Handeln als ob…
„Tun Sie einen Tag in der Woche so, als ob das Wunder eingetreten ist.
Tun Sie einen Tag in der Woche so, als ob das Wunder nicht eingetreten ist.“
Einschätzungen
„Schätzen Sie am Abend ein, wie viel vom Wunder am nächsten Tag eintritt. Überprüfen Sie am nächsten Abend, wie viel eingetreten ist.“
Fortschritte / Skalen
„Wie schätzen Sie auf einer Skala von 0 – 10 im Moment Ihre Beziehung zu
Ihrem Partner ein, wenn das Beste, was Sie sich vorstellen können die 10
bedeutet? Wie denken Sie, wie schätzt ihr Partner ihre Beziehung zu Ihnen ein? Wie erklären Sie sich, dass ihr Partner ihre Beziehung zu Ihnen anders einschätzt als Sie? Welche guten Seiten kann er an Ihnen noch nicht wahrnehmen, die Sie bereits sehen können?“
Wann ist die Kurzzeittherapie besonders sinnvoll?
Steve de Shazer und seine Partnerin Insoo Kim Berg haben die Kurzzeittherapie vor allem in der Lösung von Paar- und Familienproblemen entwickelt und angewandt.
Jutta geht zur Kurzzeittherapie
(hier nochmals zur Erinnerung das Entscheidungedilemma von Jutta)
Jutta fühlt sich immer mehr hin und hergerissen. Sie schläft nicht mehr und fühlt sich deprimiert und verzweifelt. Auf Empfehlung einer Freundin sucht sie einen Paartherapeuten auf. Es befremdet sie, dass der kaum etwas über ihr Problem wissen will. Kaum hat sie kurz erklärt, warum sie gekommen ist, stellt der Therapeut ihr die Wunderfrage: Stellen Sie sich vor, Sie legen sich abends ins Bett und schlafen in aller Ruhe ein. Am nächsten Morgen wachen Sie auf. Äußerlich ist nichts geschehen, aber über Nacht ist ein Wunder geschehen. Ihr Problem mit der eigenen Entscheidung ist plötzlich gelöst. Was wäre dann anders? Woran würden Sie das merken? Wer würde es ebenfalls merken? Woran? Jutta antwortet relativ spontan: Anders wäre, dass ich die Affäre tatsächlich beendet hätte und die Trauer darüber sich in Grenzen hält. Merken würde das natürlich mein Arbeitskollege, der aber Verständnis zeigt und meine Entscheidung für meine Familie schweren Herzens akzeptiert. Mein Mann würde merken, dass ich ausgeglichener bin. Und meine Kinder würden mich wieder lustiger und lebensfroher erleben. Über die nächste Frage des Therapeuten muss Jutta schon länger nachdenken: Wo auf einer Skala von 0-10 stehen Sie innerlich in dem Trennungsprozess von Ihrem heimlichen Liebhaber? (10 ist dabei: Wunder ist vollbracht) Wie weit wollen Sie in der nächsten Woche kommen? Jutta sieht sich im Augenblick auf der 5, also mitten im Dilemma. Sie möchte aber bis zur nächsten Sitzung bis zur 8 kommen. Was können Sie tun, um von fünf auf 6 zu kommen? Hat es in der Vergangenheit Situationen gegeben, in denen Sie schon mal auf der 6 waren? Was war damals anders? Was können Sie davon tun / wiederholen, um auch jetzt auf die 6 zu kommen. Jutta erinnert sich daran, dass Sie drauf und dran war, sich von ihrem heimlichen Liebhaber zu trennen, als sie mit ihrer Familie 3 Wochen in Urlaub in Spanien war. Da war es so, wie sie sich das Familienleben gewünscht hat. Am Ende der Sitzung bekommt Jutta eine Beobachtungsaufgabe: Schätzen Sie am Abend ein, wie viel vom Wunder der Trennung am nächsten Tag eintritt. Überprüfen Sie am nächsten Abend, wie viel davon eingetreten ist. Die nächste Sitzung nach 2 Wochen sagt Jutta ab. Sie hat ihrer Familie überzeugt, spontan für einen Kurzurlaub nach Spanien zu fahren, wo es ihnen doch so schön gefallen hat. Am letzten Tag vor dem Abflug trifft sie sich mit ihrem Liebhaber und trennt sich. Der ist sehr enttäuscht und traurig, versucht aber, ihre Entscheidung für die Familie und die Kinder zu akzeptieren. Nach zwei Monaten beschleicht Jutta noch oft die Wehmut, aber auf der anderen Seite geht es in der Familie immer besser. Ihre Lebensfreude ist zurückgekehrt.