Der „wilde“ Sex der Anfangsjahre kühlt merklich ab
Harald und Gunhild sind frustriert. Die „heiße“ Liebe aus den Anfangsjahren ihrer Ehe hat sich merklich abgekühlt. Die Lust aneinander schwindet. Im Bett läuft „zu wenig“. Wobei das „zu wenig“ sich bei Harald auf die Art und Häufigkeit des Sex bezieht, bei Gunhild eher auf die Intensität und Intimität der Begegnung. Wie viele Paare trösten sich damit, dass das eben „normal“ sei und arrangieren sich damit…
Zeichen für den Verlust der Liebe?
Für sehr viele Paare ist das allmähliche Nachlassen der sexuellen Leidenschaft in einer Beziehung ein bedrohliches Warnzeichen. Sie vermuten dahinter den Verlust ihrer Liebe.
Das kann sein. In der Tat ist die sexuelle Lust bzw. Unlust ein sensibler Sensor dafür, wie es um die Liebe steht. Die moderne Sexualforschung versteht das Abflachen des sexuellen Verlangens im Laufe einer langjährigen Partnerschaft jedoch oft als Aufforderung zur persönlichen Entwicklung jedes einzelnen Partners.
In den Anfangszeiten: Auf die Wünsche des Partners eingehen und sich aneinander anpassen
In den Anfangszeiten einer festen Beziehung bemühen sich beide Partner darum, dem anderen die „Wünsche von den Lippen abzulesen“. Jeder möchte auf die Bedürfnisse des anderen eingehen und stellt dabei auch Eigenes zurück.
Das gilt auch für den Sex des Paares
Gleiches entwickelt sich auch beim Sex. Die Wünsche des Partners werden berücksichtigt, die gegenseitige Befriedigung steht im Vordergrund und macht Lust. Dabei bilden sich Verhaltensweisen heraus, bei denen jeder der Partner bestimmte „Aufgaben“ übernimmt:
Wer übernimmt die Initialzündung? Wer sorgt für die Verhütung? Wer bestimmt den Ablauf? Wer sorgt für die Atmosphäre? Wer entscheidet, was an sexuellen Vorlieben ausgelebt werden kann? Wer beendet das Liebesspiel? Wer beeinflusst, was dann passiert?
Im Bett bilden sich fester Verhaltensmuster aus. Gespräche über Sex sind heikel, weil jeder Partner den anderen auf keinen Fall verletzen möchte. Oft bleiben deshalb die intimsten Gefühle, Gedanken und Wünsche unausgesprochen – obwohl „offen über Sex gesprochen wird“.
Die sexuelle Lust schwindet – die Symbiose trägt nicht mehr
Es ist jedoch nicht „natürlich“, dass Lust und Leidenschaft in langjährigen Partnerschaften zwangsläufig verschwinden. Was irgendwann verschwindet, ist häufig die sexuelle Lust, die aus einer gegenseitigen Abhängigkeit und Symbiose entsteht. Dabei ist das eigene Selbstvertrauen von der Unterstützung durch den Partner abhängig.
Notwendig ist ein neues Selbstwertgefühl
Wenn die sexuelle Lust schwindet, steht ein neues Gleichgewicht zwischen Bindung und Selbststeuerung an. Das Bedürfnis nach Bindung und Verbundenheit einerseits und das Verlangen nach Freiheit und Kontrolle über das eigene Leben brauchen neue Orientierung. Die Entwicklung eines soliden Selbstwertgefühls rückt gegenüber dem Verlangen nach Zugehörigkeit in den Vordergrund. Jeder der Partner muss neu bzw. vielleicht zum ersten Mal Grundfähigkeiten des Selbst-Bewusstseins (weiter- bzw. wieder-) entwickeln.
Vermeidungsstrategien
Diese Herausforderung erscheint manchen Paaren oder zumindest einem Partner zu schwierig. Sie wählen deshalb die unterschiedlichsten Strategien, um der Herausforderung nach einer Selbst-Stärkung aus dem Wege zu gehen z.B. durch
- Aufkündigung der Beziehung: Ohne den Partner soll es gelingen, das Eigene zu bewahren. Das kann durch eine Trennung oder durch innere Immigration und Rückzug erfolgen.
- Dauerstreit: Die Partner streiten sich regelmäßig und ziehen daraus Energie, um die Leblosigkeit ihrer Beziehung zu überwinden.
- Nebenbeziehung: Sie soll das „verlorene Paradies“ der ersten Liebe wieder bringen.
- Verstärkte Symbiose: beide Partner achten vehement darauf, dass der Partner nicht aus dem gewohnten Beziehungs-muster ausbricht. Jede kleine Regung von Eigenständigkeit wird als Gefährdung angesehen und unterbunden.
- Rücksichtslosigkeit: Einer der Partner oder beide kündigen die Bereitschaft auf, sich auf den Partner einzustellen und „machen ihr Ding ohne Rücksicht auf Verluste“.
Allen diesen und ähnlichen Versuchen ist gemeinsam, dass die Selbst-Verwirklichung auf eher destruktive Weise angestrebt wird.
Zum Beispiel Harald und Gunhild
Zu einer tiefen Ehekrise kommt es, als Gunhild ihrem Mann vorschlägt, dass sie lieber getrennte Schlafzimmer hätte und sich im Gästezimmer einrichten möchte. Sie begründet das damit, dass Harald zu sehr schnarcht und sie abends gerne noch lange liest, was Harald schon immer gestört hat. Harald ist über dieses Ansinnen von Gunhild total entsetzt. Klar, in den Jahren ist ihr Sex immer weniger und immer weniger spannend geworden. Jetzt will sich Gunhild offensichtlich ganz entziehen – und das mit fadenscheinigen Argumenten. Sie haben es doch im Prinzip gut miteinander; es hat doch 10 Jahre lang gut geklappt. Warum jetzt solch ein Bruch? Bin ich für sie nicht attraktiv genug? Hat sie einen anderen? Ist alles, was wir uns aufgebaut haben, nichts mehr wert?
Gunhild bleibt bei ihrem Entschluss und richtet sich im Gästezimmer ein. Sie fühlt sich nachts einsam und sie hat Angst, dass Harald sich vor den Kopf gestoßen fühlt. Auf der anderen Seite genießt sie es, ein Stück ihres Lebens wieder frei gestalten zu können, ohne immer Harald im Blick zu haben. Sie hofft, dass es der Beziehung gut tun wird. Es frustriert sie, dass Harald nie die Initiative zum Sex ergreift und bei ihm kein Begehren erkennbar ist. Das neue Arrangement setzt voraus, dass sie wieder umeinander werben müssen, wenn sie Sex haben wollen. Sie stellt sich vor, wie sie abends wieder auf Harald wartet und er an die Tür klopft…Oder sie ihn heimlich überrascht, indem sie nur in Dessous in sein Bett schleicht…
Zusammenfassung:
Gunhild und die vier Schritte zur Entwicklung des Selbstwertgefühls
1. Gunhild traut sich, ihre Eigenständigkeit zu wagen und aus der bisherigen Symbiose auszuscheren, auch wenn ihr Partner dies nicht billigt, nicht versteht und das große Schweigen entsteht.
2. Sie überwindet ihre Angst vor dem Alleinsein in der Nacht und dem Verlust der gewohnten Vertrautheit im Bett. Dafür gewinnt sie ein Stück Freiheit für sich selbst – einen Frei-Raum im wahrsten Sinne des Wortes.
3. Sie lässt sich durch die Reaktion von Harald nicht zu sehr beunruhigen; sie vertraut darauf, dass ihr Schritt richtig ist und bemüht sich darum, weiterhin zugewandt zu bleiben, obwohl Harald sich vollkommen zurückzieht.
4. Sie weiß, dass sie die bisherige Harmonie der Beziehung aufkündigt. Aber sie weiß auch, dass es so wie in den letzten Jahren nicht weitergehen kann. So hat sie sich eine Beziehung nicht vorgestellt. Sie möchte, dass der Sex wieder Reiz und Spannung hat. Dafür riskiert sie eine Entfremdung von Harald.
Harald und Gunhild – und die neue Lust aufeinander
Nach zwei Wochen Funkstille traut sich Gunhild , ein Gespräch über ihre Wünsche und Fantasien mit Harald zu führen. Sie versucht ihm zu erklären, was es mit dem Umzug in das Gästezimmer auf sich hat: Sie ist frustriert darüber, dass von ihm aus kein Werben, keine Initiative, keine Erotik kommt. Sie fände es so schön, wenn er sie abends überraschen würde, sie wäre bereit… Zunächst zeigt Harald keine Reaktion. Aber nach einigen Tagen klopft es abends an der Tür von Gunhild …Der „Gegenbesuch“ lässt nicht lange auf sich warten…
Dies ist eine gekürzte Fassung von Kapitel 6 meines eBooks als pdf: Wenn die Liebe abhanden kommt. Ungewöhnliche Interventionen gegen die Sprachlosigkeit in langjährigen Partnerbeziehungen, 2014, 98 Seiten, 7,80 € (zzgl. MWSt.) Bestellmöglichkeit hier
Zurück zur Startseite: Worum geht es?
Das Foto stammt von schattenfell. / photocase.de und zeigt keine im Text erwähnte Personen